Eine musikwissenschaftliche Detektivgeschichte

„Il y a un motet dans la Médiathèque Jean Renoir à Dieppe – inconnu, inédit – mais très intéressant", erzählte der große Saint-Saëns-Experte Yves Gérard vor einigen Jahren. Nur eine kleine Motette sollte es sein, nichts Großes, nichts Aufwändiges, allerdings wohl mit Saxophonen besetzt.

Dabei stellte sich allerdings bald heraus, dass es sich nicht nur um diese eine nicht edierte, unbekannte Motette handelte – Saint-Saëns hinterließ das Werk Super flumina Babylonis tatsächlich in vier verschiedenen Fassungen, von denen drei heute in der Pariser Bibliothèque nationale liegen. Was hingegen ganz und gar nicht täuschte, war Yves Gérards Urteil „très intéressant“. Trotz vieler Recherchen sind einige Probleme und Geheimnisse dieser Motetten bis heute nicht gelöst und entschlüsselt, darunter zählen u.a. biographische Einordnungen oder Erklärungen. Saint-Saëns scheint sich nicht zu seinem Werk geäußert zu haben. Dennoch ist es gelungen, drei Editionen und zumindest eine Filiation der Quellen zu erstellen.

Wahrscheinlich 1853 wechselte Camille Saint-Saëns als Organist an die Kirche St. Merry im vierten Pariser Arrondissement. Schon dieses Datum kann nicht eindeutig belegt werden: Die Akten und Gehaltslisten des Pfarr-Archivs (archives historiques de l’église catholique à Paris1) weisen große Lücken auf. Denkbar ist, dass Saint-Saëns – quasi als Einstand – diese Motette schrieb. Datiert ist die erste Fassung von Super flumina Babylonis jedenfalls 1854. Schon um das zu eruieren war kriminalistischer Einsatz notwendig: Die erste Partiturseite mit dieser Information ist überklebt und vernäht. Auf der heutigen ersten Seite ist die Jahreszahl nicht mehr zu sehen, nur durch einen Riss im Papier kann man sie erahnen. Erfreulicherweise löst sich nach 86 Jahren mittlerweile der Klebstoff, der die alte und die neue Seite 1 zusammenhielt, sodass man zumindest an einem Seitenrand die ursprüngliche Version der ersten Fassung sehen kann: Von Beginn an wurden neben Streichern, Orgel, Solo und Chor vier Saxophone eingesetzt.

Saint-Saëns trifft Adoplhe Sax

Am 21. März 1846 hatte der Belgier Adolphe Sax (1814-1894) unter der Nummer 3226 seine ab 1839/1840 erfundenen Saxophone in Frankreich patentieren lassen. Ab 1842 lebte Sax – ebenso wie Saint-Saëns – in Paris, wo sich beide sicherlich begegneten, und wo der junge Komponist die neuen Instrumente von Sax kennenlernte, deren Klang er für seine Werke nutzen wollte. Gelegenheit dazu wäre zum Beispiel am 15. Mai 1853 gewesen, als sie in einem Konzert im Pariser Jardin d’Hiver vorgestellt wurden.2

Saint-Saëns muss von den neuen Instrumenten jedenfalls so begeistert gewesen sein, dass er sie gleich als Quartett in Super flumina Babylonis einsetzte. Damit muss auch die Musikgeschichte neu geschrieben werden, denn somit ist diese Motette nachweislich das erste Werk für Saxophon-Quartett – und nicht, wie man bisher annahm, ein drei Jahre später entstandenes Premier Quatuor von Jean-Baptiste Singelée (1812-1875). (Wobei Saint-Saëns die Saxophone eher noch wie Klarinetten einsetzt.)

Viel Erfahrung scheint der junge Komponist damals aber mit den neuen Instrumenten nicht gehabt zu haben: Das Manuskript (Fassung 1) wimmelt von Streichungen, Änderungen und Überklebungen.Die Erklärung ist nach detektivischer Arbeit eigentlich ganz einfach: Ursprünglich waren „Saxophone Ténor en mib3 und „Saxophone Baryton en sib“ besetzt. Saint-Saëns hatte sich in der Grundtonart der transponierenden Instrumente schlicht vertan, seine Mutter, Clémence Saint-Saëns, geb. Collin (1809-1888), die diese erste Komposition ins Reine geschrieben hatte, hatte die Fehler übernommen. Saint-Saëns selbst nahm die Korrekturen in den Saxophon-Stimmen vor, sodass es einige Seiten gibt, in denen zwei Handschriften zu sehen sind – seine eigene und die seiner Mutter. Auch in den Instrumentalstimmen, die wohl zur Uraufführung eingesetzt wurden, hat der Komponist deutlich korrigiert. Offensichtlich überarbeitet hat Saint-Saëns auch nach der Abschrift durch die Mutter den selbst notierten Schluss, indem er sieben Takte (235-241) strich und 34 Takte hinzufügte: Ursprünglich hatte er als letzte Verse gesetzt: „Selig, wer dir vergilt deine Taten, die du uns getan hast!“ Genauso versöhnlich wie er den Schluss gestaltete, veränderte er atmosphärisch den Anfang: Er ersetzte liegende ganze Noten durch phrasierte Achtelketten, die durchaus als Wellenmotiv gedeutet werden können.

Was hat es mit den drei weitere Fassungen auf sich?

Doch nicht alle der fast 30 Überklebungen lassen sich durch die Korrektur von erwiesenen Fehlern erklären. Die Vokalstimmen zur Uraufführung weichen nämlich von der Partitur an einigen Stellen entschieden ab.

Erklären lässt sich dies damit, dass es drei weitere Fassungen von Super flumina Babylonis gibt:

  • Fassung 2 in der relativ großen Besetzung mit 2 Flûtes / 2 Hautbois / 2 Clarinettes en sib / 4 Bassons / 3 Trombones / Timballes en ) [d und a] / 1ers Violons/ 2mes Violons / Altos / Solo / Chœur / Orgue / Violoncelles / Contre-Basses4
  • Fassung 3 kleiner besetzte Fassung mit Oboe 1°/ Oboe 2°/ Corno inglese / Corni in F 1° 2° / Fagotti 1° 2° / Violini 1mi / Violini 2di / Viole / Alto Solo / Soprani / Alti Tenori / Bassi / Violoncelli / Bassi5
  • Fassung 4 für Solo, Chor und Klavier aber mit englischem Text By the rivers of Babylon6

Die Chronologie ergibt sich aus den Änderungen in den Fassungen (Takt 44ff. bzw. 56-587), wobei die Takte 44 bis 46 in der ersten Fassung überklebt sind. Deutlich ist unterhalb der Überklebung die Unterlänge8 des ‚y' aus Hym-num zu erkennen, sodass davon auszugehen ist, dass ursprünglich unter der Überklebung und der derzeit gültigen Lesart die Melodik und der Text aus der großen Fassung zu lesen waren.

Abbildung 1: Vergleich der vier Fassungen Takt 32-34


Identisch sind hier die Fassungen 1, 3 und 4, wobei aufgrund des ‚y‘ von einer kompositorischen Veränderung erst in Fassung 3 gesprochen werden kann. Somit lässt sich behaupten, dass die Überklebung in der ersten Fassung nach Komposition der dritten Fassung entstanden sein muss. Erklären lässt sich diese Überarbeitung vielleicht mit der deutlich besseren Singbarkeit der Phrase.

Erfolg hatte der Komponist mit diesem Werk trotz der Umarbeitungen wohl weniger. In der Ausgabe von L’Art Musical vom 16. April 1874, heißt es: « Le psaume de M. Saint-Saëns Super flumina, chanté au même concert, est froid et confus. La partie solo, qui était confiée à Mme Trélat, ne se détache pas suffisamment des chœurs. »9

Wahrscheinlich war es die zweite Fassung, die 1874 aufgeführt wurde: Die in der Rezension erwähnte Sängerin – Marie Trélat (1837-1914) – war bekannt für Ihre schöne Mezzosopran-Stimme. Die kleinere, dritte (und unvollständig überlieferte) Fassung hingegen ist für eine Alt-Stimme gesetzt.

Warum Saint-Saëns schließlich das Werk nochmals für Solo, Chor und Klavier und auch noch mit englischem Text bearbeitete, lässt sich nicht klären. Denkbar ist ein Auftrag oder eine Gelegenheit in England oder in einer der englischen Gemeinden in Paris oder Dieppe. Die Textvorlage war jedenfalls die King-James-Bibel, die für die Anglikanische Kirche im Auftrag von König Jakob I. von England angefertigt wurde. Den Text notierte Saint-Saëns zu großen Teilen selbst im Manuskript. Den Klavierpart hatte er in der ursprünglichen Partitur der ersten Fassung angelegt. Dennoch scheint die englische Klavierfassung die letzte Version von Super flumina Babylonis aus der Hand von Camille Saint-Saëns zu sein. Auch hier konnte eine musikwissenschaftlich-kriminalistische Untersuchung den Beweis liefern: In dem Autograph der ersten Fassung sind sehr deutliche Rasuren auf der letzten Zählzeit in Takt 33 zu sehen. Aufgrund der Abweichungen in der Melodik in Takt 33 (fallende Quarte vs. aufsteigende Sekunde) lässt sich eindeutig nachweisen, dass die Klavierfassung zuletzt angelegt wurde und die Änderungen in die Saxophon-Fassung eingetragen wurden:

Abbildung 2: Änderungen in den Fassungen (Takt 44ff. bzw. 56-58)


Alle vollständigen Fassungen können über den Bärenreiter-Verlag10 erworben werden. Alle - wenn sich nicht in den nächsten Jahren noch weitere Fassungen finden, die in dieses Geflecht an Fassungen eingearbeitet werden müssten.

 

© Christina M. Stahl


1. www.paris.catholique.fr/archives-historiques.html, Stand: 22. Juni 2020.
2. N.N., « Concert d’harmonie. D‘après une nouvelle organisation d’Ad. Sax », in : Revue et Gazette musicale de Paris XX/n°21, 22 mai 1853, S. 187
3. Auch im Folgenden: Manuskript F-DI, Inv. 904.CSS.Ms.2114.2.1, S. 1.

4. Diese Version ist in zwei Exemplaren überliefert: Eine Kopie aus der Hand von Clémence Saint-Saëns (F-Pn, Ms. 8821) und eine zweite Abschrift eines unbekannten Kopisten (F-Pn, Ms 8822).
5. Vgl. F-Pn 8823.

6. Vgl. F-Pn 8824
7. Die ‚kleine Fassung ist nur bis Takt 58 überliefert, war aber vermutlich vollständig. Neben der Besetzung und der Umarbeitung der Solo-Stimme und der Streicherstimmen sind weitere Takte hinzugefügt worden, sodass die Taktzählung von den anderen Fassungen abweicht.

8. Gemeint ist die Unterkante der Kleinbuchstaben.
9. «Concert Danbé.», in : L’Art Musical XIII/ 16, 16 Avril 1874, S. 124.

10. Große Fassung: AOE 10642

Saxophonfassung: BA 11305

Englische Fassung: BA 11309-90